Title
Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert


Author(s)
Wolf, Hubert
Published
München 2020: C.H. Beck Verlag
Extent
431 Seiten
Price
circa € 28.00 (DE)
by
Arnulf Gross

Erfindungen haben oft zwei oder mehr Seiten, sie sind ambivalent. Als die Fission von Atomkernen erfunden wurde, hat sie eine neue Zeit eingeläutet. Nach einer ersten Euphorie ist man heute skeptisch, denn die Kraft dieser Erfindung ist mehr als zerstörerisch. Das so genannte Anthropozän wurde mit der Atombombe Realität. Dennoch gibt es Erfindungen, die uns Menschen das Leben erleichtert haben. Als klassisches Beispiel dazu dient das Rad, die Toilettenspülung, die Waschmaschine oder der Kühlschrank – alle freilich heute auch mit Atomstrom betrieben. Wie steht es aber um den römischen Katholizismus, der laut Hubert Wolf im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts «neu erfunden» wurde, einer katholischen Kirche, die eine spezifisch neue globale Gestalt und Kommando‐Struktur annahm? Ist er gefährlich oder zweckdienlich? Da gibt es wohl geteilte Meinungen.
Vorliegendes, zu besprechendes Buch scheut nicht vor gut begründeten Urteilen zurück. Der Leser/die Leserin wird zu einem bestimmten Bild hingeführt. In einer katholischen Binnenperspektive, neudeutsch: emisch, lautet die Antwort: Was da – gut vorbereitet und im Kulminationspunkt des I. Vatikanums mit seinem ganz unbescheidenen Unfehlbarkeitsdogma und dem so genannten globalen Jurisdiktionsprimat – auf die Beine gestellt wurde, ist mehr als fragwürdig, vielleicht sogar gefährlich. In einem in 9 Kapitel gegliederten, sprachlich exzellenten und spannenden Buch legt Hubert Wolf im C.H. Beck‐Verlag seine Thesen dar. Nicht alle davon sind neu. Eine eindrückliche Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts wird dabei geschrieben und einem breiten Publikum präsentiert.
Wir haben uns als Kleingruppe der Lektüre dieses Buches angenommen und besprechen es aus unseren Perspektiven heraus, aus dem, was sich in unseren Unterhaltungen ergeben hat. Wie das Werk auch das Produkt eines Kollektivs ist, so ist es auch diese Rezension. Zu Beginn haben wir uns mit Johannes Fried die Frage gestellt, ob der im Mittelpunkt stehende Mastai Ferretti‐Papst sich in dieser im Untertitel so bezeichneten «Biografie» wiederfinden würde? Wir meinten, diese Frage verneinen zu müssen. Der Historiker bzw. die Historikerin sind keineswegs angehalten, diese Überlegung zu berücksichtigen oder umzusetzen. Aber die gewiss anachronistische Grundsatzüberlegung schien uns dann doch reizvoll. Die Biografie ist keinesfalls eine Apologie. Wolf stellt, wie wir sehen werden, eine ähnliche Überlegung zum Codex Juris Canonici an. Dessen Drucklegung hat Pius IX. bewirkt, aber nicht erlebt. Sie hätte ihn aber gefreut.
Ein Menschenleben vollzieht sich nicht in einem luftleeren Raum. Rahmenbedingungen sind entscheidend. In einem digitalen Zeitalter wie dem unsrigen etwa wird die Handschrift automatisch etwas vernachlässigt. In einer Zeit, in der eine Institution wie die katholische Kirche sich stark in der Defensive fühlte und viele sie regelrecht am Ende sahen, agiert sie anders, als zu Zeiten, wo ihr Funktion, Wert und Würde zugeschrieben wurden. Wie sieht das heute aus? Im 19. Jahrhundert hat das Papsttum, ja Pius IX., «seinen» Kirchenstaat verloren, das Zeitalter der Säkularisationen und verhängnisvollen Nationalstaaten brach an. Rom wurde Hauptstadt Italiens. Eine Art qualmende Dampflok des Fortschritts schien ungebremst die in die Jahre gekommene Struktur eines in der Geschichte bedeutsamen Religionssystems gleichsam zu überfahren, zu zertrümmern. Pius IX. sah sich, mit anderen Päpsten, als ein «petrinischer» Fels in dem stürmischen Gewässer seiner Zeit, und als Hüter nicht nur kirchlicher, sondern gesamtgesellschaftlicher Autorität.
Welche Impulse aber kamen von Pius dem IX. selbst und welche wurden ihm zugetragen bzw. zugeschrieben? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Sie ist es auch nicht für Wolf, der einen selbstsicheren sowie taktisch geschickten, aber zugleich phasenweise auch fremdgesteuerten und von seinem Umfeld abhängigen Papst zeigt (u.a. 24, 64, 178). Solche Einschätzungen müssen wohl in konkreten «Messungen» zu spezifischen Zeitpunkten getroffen werden, denn eine diesbezügliche Kontinuität über ein Menschenleben hinweg ist wenig wahrscheinlich. Fest steht, dass mit der Revolution von 1848 und dem Exil in neapolitanische Gaëta Pius IX. sich gewandelt hatte. Er hat eine Art Trauma durchgemacht und erlebt. Die erzwungene Flucht war lebens‐ und handlungsprägend, und ein durchaus neuralgischer Punkt vorliegender Biografie.
Pius IX. ist an der Adria geboren, in Senigallia, das zum Kirchenstaat gehörte, um zwar im Jahr 1792 inmitten der Umbruchszeit der Französischen Revolution. Giovanni Maria Mastai Ferretti wuchs in eine relativ begüterte Provinz‐Adelsfamilie mit Landsitz hinein, war von Napoleon fasziniert, und konnte nur Kleriker werden, weil ihm viele Dispense das möglich machten. So hat er nie ein Priesterseminar besucht (63, 130). Giovanni Maria litt an epileptischen Anfällen (u.a. 41), was bis in den Seligsprechungsprozess, der 2000 erfolgreich an ein Ende kam, Anlass für Diskussionen bot. Eine «einseitige Sichtweise, die Epilepsie für alle negativen Charaktereigenschaften Mastais verantwortlich zu machen, ist genauso wie die Versuche der anderen Seite, die Krankheit und ihren Verlauf herunterzuspielen, problematisch. Weder die eine noch die andere Lesart wird der schwerwiegenden Erkrankung wirklich gerecht», so Hubert Wolf austarierend (42). Wie in vielen anderen Biografien spielt Krankheit, Leid und Schmerz eine gewichtige Rolle im Leben des Mastai Ferretti‐Papstes.
Auffällig am Band ist, dass der im Mittelpunkt stehende Papst über weite Strecken des Buches abwesend ist. Das Bild von ihm ist, wohl gewollt, etwas blass. Andererseits gilt: Man wurde im Prolog so richtig auf Pius «angefixt», sodass bei der späteren Lektüre sein häufiges Fehlen nicht so ins Gewicht fiel. Stark personale Biografien sind denn auch recht problematisch. Wolf versucht strukturelle, ideengeschichtlich wie politische Rahmenbedingungen der Zeit nachzuzeichnen. Wird dadurch einerseits das Umfeld, insbesondere mit Blick auf deutsche Landen, tiefgreifend analysiert, so hat diese Vorgehensweise den Preis, dass die konkrete Zeichnung des Lebens von Pius IX. etwas auf der Strecke bleibt. Vgl. nur 52–58, 87–110, 119–130, usw., wo Mastai Ferretti als Person kaum Thema ist. Erfahren wir etwas von seiner Zeit als Gesandtschaftssekretär in die Neue Welt, konkret nach Chile 1823/1824, so bleiben seine Bischofsjahre (1832–1846) stärker im Dunklen, insbesondere was das Denken, Fühlen und Agieren Mastai Ferrettis angeht. Dass dies sicher auch der Quellensituation geschuldet ist, zeigt Wolf dann, wenn er über die Gründe einer «überraschenden Milde im Umgang mit gescheiterten Revolutionären» spekuliert: Es läge vermutlich daran, dass doch auch dessen Bruder in früheren Jahren sich aufständischen Militärs angeschlossen hatte (82). Einen Beleg dafür bringt Wolf nicht. Der Münsteraner Kirchenhistoriker konzentriert sich auf die Zeit des eigentlichen Pontifikats Pius IX., das mit 32 Jahren beeindruckend lange währte. Und in diesem Zeitraum, quasi eine Generation lang, hat sich für die hierarchisch katholische Kirche einiges geändert. Wie es vor ihm schon Roger Aubert und Rudolf Reinhardt angetönt haben, sieht Hubert Wolf eine Neuerfindung der katholischen Kirche am Werke, z.B. in der ultramontanen Umformung des Bischofsbildes (140). Das Konzept der «Neuerfindung» könnte als phasenweise im Buch als etwas überstrapaziert empfunden werden.
So werden neben dem tridentinischen Bischofsideal auch die tridentinische Messe «erfunden» wie auch ein «Einheitskatholizismus», den es weder im konfessionellen Zeitalter, geschweige denn im Mittelalter gegeben hat. Das System der katholischen Kirche erweist sich als innovativ, ja konstruktivistisch, indem es, paradoxerweise, auf vermeintliche Tradition pocht. Bereits in der Antrittsenzyklika «Qui pluribus» von 1846 (164) wird nach Wolf ein Programm für das Pontifikat Pius IX. dargelegt. Eine «Agenda» (164) wird präsentiert, die als Zielpunkt die Unfehlbarkeit in nuce schon beinhaltet. Auf ein Detail geht Wolf, der durchgehend und sogar im Titel von «Erfindungen» spricht, nicht ein: Von Erfindungen der Moderne («invenzioni») spricht auch schon der frisch amtierende Papst. Diese Neuerungen bzw. Erfindungen, einer Welt ohne Glauben, Religion und Gott, wirft Mastai Ferretti den zeitgenössischen Philosophien vor. Die Flucht aus Rom (170–172, dort eindrücklich ereignisgeschichtlich dargestellt) im Revolutionsjahr 1848 steigert die paternalistische Attitüde und Aversion gegen die vermeintliche Moderne und den Liberalismus: «Die Angriffe auf seine Person interpretierte er als Angriffe auf Christus» (172). Es ist wohl auch ein Unterschied, ob man sich als Nachfolger Christi oder des Apostels Petrus sieht.
Auf dieser Linie liegt dann auch die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens, ein Akt, der für Wolf mehrere Schienen bedient. Insbesondere kommt neben dem Gedanken der Privilegien‐Mariologie derjenige Aspekt zur Geltung, dass der Papst mit dieser Deklaration «ohne theologische Infragestellung und ohne tiefe Glaubensnot» (201) seine eigene, monarchisch‐theologische Stellung befestigte und ausbaute. Nicht nur in diesen Passagen des Buches zeigt Wolf seine analytischen und explikativen Fähigkeiten in Voll‐ und Reinform. Theologiegeschichtliche Positionen und Diskussionen werden profund eingebunden. Letztlich schien es dem marienfrommen Pius IX. um eine Art Tauschhandel gegangen zu sein: Aufwertung Mariens bedeute zugleich mehr transzendenten Schutz durch sie – Hans Küng sprach von einem «Devotionsdogma» (210).
Es kam zu einer Art Apotheose des theologischen und (kirchen)rechtlichen päpstlichen Anspruchs, wie das 7. und 8. Kapitel der Studie Wolfs eindrücklich zeigen. Letzteres ist zusammen mit dem Synthesekapitel 9 wohl das zentrale im Buch: In einer Art Klimax kulminiert hier im Konzil von 1869/1870 als «päpstlicher Haussynode» (268) die Biografie Wolfs. Dies geschieht geradezu in kosmischer Art und Weise, wenn Wolf Blitz und Donner im Juli 1870 über St. Peter bedient, um die Vorgänge zu illustrieren. Obschon das bereits vor ihm (z.B. von Klaus Schatz) umgesetzt wurde, ist die kosmisch‐meteorologische Szenerie der «Unfehlbarkeitsdefinition» immer wieder von Neuem eindrücklich und interpretationsoffen (257–259). Wolf legt dar, wie man kirchlicherseits bzw. besser Pius IX. selbstbewusst die Notwendigkeit von Entscheidungen suggerierte und den Weg dorthin aufgleiste (266) – relativ rücksichtslos, kühl und zielstrebig, wie es schon anfänglich im Prolog aufgezeigt worden war.
Um die Tradition kümmerte sich Pius IX. recht wenig. Zugespitzt könnte man sagen: Trotzdem wurde er nicht zum Idealbild für die fortschrittlichen und vorwärtsstrebenden Kräfte! Sogar einfache demokratische Mehrheiten wurden dem Papst recht, um seine Interessen durchzubringen (269, 282). Wolf wird nicht nur in diesem Kapitel recht deutlich und verhehlt seine Sichtweise nicht – er ist und bleibt engagierter Theologe. Pius IX. stemmte sich durchaus gegen eine kollegiale (Ist es nicht doch auch eine oligarchische?) Ekklesiologie, und nahm dazu Spaltungen in Kauf. Aus vermeintlich «gesundheitlichen Gründen» (281) reisten ja auch viele Bischöfe frühzeitig vom Konzil ab. Dies ist ein Akt, den wir in unserer Lesegruppe nicht oder nur teilweise nachvollziehen konnten. Wolf bezieht dazu keine Stellung.
Nach Wolf hat nun Pius IX. eine Art «Komplexitätsreduktion» in der Kirche vorgenommen. Im rechtlichen Bereich zeigt sich das in der Wirkungsgeschichte dieses Papsttums, das bis ins Heute reicht. Rechtliche Vereinheitlichung hat vielfältige NormenTradition und jurisdiktionelle Freiheiten in einen einheitlichen Codex 1917/1983 überführt. «Der Papst [Pius IX., Vf.] wäre mit dem Codex unter dem Kopfkissen sicher beruhigt eingeschlafen, wenn er sich abends gegen zehn Uhr in seine Gemächer im Apostolischen Palast zurückzog.» (300). An vielen Stellen wie eben dieser brilliert Wolf mittels literarisch‐sprachlicher Kunstgriffe. Wichtig ist das Nachleben des 1878 verstorbenen Mastai Ferretti auch deswegen, weil es zu einem komplexen Seligsprechungsprozess mit Bruchlinien und Unwegsamkeiten kam. Das erstaunt wenig, ist es doch in vielen anderen Fällen von Selig‐ und Heiligsprechungen genauso. Die Dauer dieser Prozesse ist nicht zuletzt ihr Qualitätsmerkmal, stellen sich doch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Fragen.
Gerade Schweizer Theologen und Kirchenrechtler wie August Bernhard Hasler und Carlo Snider kommen in Wolfs Schlusskapitel prominent zu Wort. Snider als Kirchenjurist dient eher als Abgrenzungsfolie, mit einem sehr langen Zitat auf S. 318/319, das sich letztlich wenig schmeichelhaft für den zitierten Autor und noch weniger für Pius IX. erweist. In Abgrenzung zum «metaphysischen» Snider profiliert Wolf unserer Meinung nach auch zurecht die Kirchengeschichte als einen theologischen Fund‐ und Aussageort. Ob die Frontstellung, die zwischen Kirchengeschichte und Dogmatik an manchen Stellen des Bandes aufgebaut wird, glücklich zu nennen ist, sei dahingestellt. Im Idealfall stecken doch beide Disziplinen Grenzpfähle und Randsteine für das Denken und Handeln ein und ermöglichen menschliche Räume der Freiheit. Unfehlbarkeitsaussagen einzelner tun dies gewiss weniger. Schillernd ist etwas, wie Wolf das Konzept der «die Gläubigen» verwendet. Uns scheint dies etwas inkonsistent zu sein.
Es nahm uns schliesslich noch wunder, ob nicht gerade das Rezeptionskapitel auch hätte am Anfang stehen können. So wäre das Werk stärker in diesen wirkungsgeschichtlichen Teil selbst eingeschrieben worden. Wolfs Biografie ist denn auch ein Stein in der Rezeptionsgeschichte. Aber das führt nun zu weit, ist doch das Buch, wie schon anfangs gesagt, in seinen Kapiteln wohlproportioniert, schöpft zudem aus reichhaltigen und vielfältigen Vorstudien und zeigt sich in der Textpräsentation und Sprachbeherrschung souverän. Viele wichtige historiografische Informationen finden sich im Endnotenapparat. Die Bebilderung ist eindrücklich, aber manchmal etwas zu wenig in den Text integriert. Bildlegenden wie die auf S. 209, wo auf eine Schnupftabakdose Bezug genommen wird, oder auf S. 332, wo in Bezug auf Pius IX. erstmals und einmalig die Rede vom «Gottkönig» ist, sind zugespitzt und hätten womöglich umfassender ausgeführt werden können. Diese kleine Kritik schwächt den Gesamteindruck in keiner Weise: Dem Werk, das wir mit grosser Begeisterung gelesen und besprochen haben, ist eine weite Verbreitung und eine Übersetzung in andere Sprachen zu wünschen. Es ist letztlich eine Nachwehe oder ein Nachbeben des Ultramontanismus, der in unseren Breiten langsam an ein Ende zu kommen scheint.

Zitierweise:
Gross, Arnulf; Levy, Pascal; Neuhold, David; Sommerer, Richard; Tober, Bettina: Rezension zu: Wolf, Hubert: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 447-450. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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